Was Deutschland von Nordfriesland in Sachen Energieunabhängigkeit lernen kann

Bredstedt, der 7. April

Eine energiepolitische Modellregion für Deutschland kann die Westküste Schleswig-Holsteins sein, hierin waren sich die Teilnehmer*innen der gestrigen Podiumsdiskussion mit Tobias Goldschmidt in der beeindruckenden Werkshalle des örtlichen Unternehmens Breezer Aircraft einig. Die grüne Landtagkandidatin Silke Backsen (Wahlkreis 2 Nordfriesland Süd) und der grüne Landtagskandidat Dr. Andreas Tietze (Wahlkreis 1 Nordfriesland Nord) hatten Goldschmidt zusammen mit dem Kreisverband von Bündnis 90/Die Grünen zu einer Küstentour geladen, um die Fortschritte lokaler Umwelt- und Energievorgaben zu begutachten. Das Treffen hatte durch den Krieg in der Ukraine und die Frage, inwieweit eine Versorgung allein durch Erneuerbare Energien realistisch und machbar ist, eine ganz spezielle Dynamik.

„Obwohl die Energiewende schon lange läuft, sind wir erst bei 50 Prozent Anteil am Stromverbrauch. Hier fehlt es auf Bundesebene an Tempo. Da sind wir auf Landesebene schon deutlich schneller. Wir sind das einzige Bundesland, das es geschafft hat, zwei Prozent der Landesfläche für die Windenergie zu nutzen. Und wir wollen den Ausbau noch weiter forcieren. Und warum wollen wir das? Weil wir uns unabhängig machen wollen von fossilen Importen“, stieg Tobias‘ Goldschmidt in die Diskussion ein. Nordfriesland als Wiege der Energiewende käme dabei eine besondere Rolle zu. Hier leben die Menschen, die die notwendigen Technologien groß gemacht haben und schon immer wussten: Windräder und Solaranlagen schaffen Frieden; und lokal gesehen Wertschöpfung und Arbeitsplätze. Silke Backsen, Landtagskandidatin für den Wahlkreis Nordfriesland Süd ergänzte im Laufe des Abends: „Frieden ist das höchste Gut. Das einzige, was wir tun können, ist für unsere Demokratie einzustehen.“

Neben der Energieunabhängigkeit durch Wind- und Sonnenenergie wurde auch über den Wirtschaftsfaktor der Energiewende gesprochen. „Wir Grünen können Wirtschaft. Das beweisen wir gerade Tag für Tag durch Robert Habeck, unseren Bundeswirtschaftsminister; und auch hier vor Ort in Nordfriesland zeigen wir jeden Tag, dass man mit grünen Ideen, schwarze Zahlen schreiben kann. Jetzt gilt es, die Kompetenz und Innovationen aus Nordfriesland für die Herausforderungen der Zukunft zu nutzen. Gemeinsam sind wir stark“, kommentierte Andreas Tietze Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Landtag Schleswig-Holstein und Direktkandidat im Wahlkreis 1 Nordfriesland-Nord. Die Energiewende könne ein richtiger Booster für den Arbeitsmarkt werden. Bis zu 800.000 Arbeitsplätze deutschlandweit wird es brauchen, um unser Land klimaneutral zu machen. Das hatte eine Studie von Bündnis 90/Die Grünen aus dem vergangenen Jahr ergeben. Durch die Sektorenkopplung, also die Verwendung von Strom für Wärme und Verkehr, erwarten Branchenkenner allein für die Westküste bis zu 50.000 Jobs. Aktuell sichern Unternehmen der Erneuerbare-Energie-Branche rund 18.000 Arbeitsplätze im gesamten Land.

Tobias Goldschmidt, Claas Arlt, Andreas Tietze und Ove Petersen



Es sind vor allem die innovativen Projekten aus der Region, die dabei eine Blaupause für ganz Deutschland sein können. Sie zeigen, dass der regional produzierte Strom veredelt und für die Speicherung oder Nutzung in anderen Sektoren aufbereitet werden kann. So können beispielsweise Busse und PKWs in Niebüll bereits seit dem 26. August des vergangenes Jahres grünen Wasserstoff tanken. Sowohl die Tankstelle in Husum als auch die in Niebüll gehören zum Verbundprojekt eFarm. Dieses machte als erstes in Deutschland vor, wie sich Windenergie und Wasserstoff zu einem regionalen Energiesystem verbinden lassen. Geschäftsführer Ove Petersen machte jedoch deutlich, dass noch etliche Hürden zu nehmen seien, bis Projekte wie diese in Serie gehen können: „Wir arbeiten schon sehr lange daran, dass wir den Strom aus EEG-Anlagen, die ansonsten abgeschaltet würden, für Wasserstoff oder Wärme bereitstellen können. Bislang stehen wir da vor zahlreichen politischen Hürden. Wir können nicht darauf warten, bis die Infrastruktur vor allem in Form von Netzen fertig ist, bis wir mit unseren Projekten starten. Die Energie vor Ort muss schnellstmöglich genutzt werden.“

In der vergangenen Woche wurde das sogenannte Osterpaket von Minister Habeck im Kabinett beraten. Darin sind neue Ziele für den Ausbau der Solarenergie definiert. Der jährliche Zubau neuer Solarenergieanlagen soll demnach von 5 Gigawatt im Jahr 2021 bis auf 22 Gigawatt im Jahr 2026 steigen. Bei Wind Onshore sieht die Bundesregierung eine Steigerung des jährlichen Zubaus von ca. 2 Gigawatt im Jahr 2021 auf 10 Gigawatt im Jahr 2025 vor. Silke Backsen ergänzte: „Der Ausbau von Wind und Solar muss voranschreiten, da das 1,5 Grad Ziel kein Ziel sondern eine Grenze ist. Dabei müssen Kompromisse gefunden werden, die den Natur- und Artenschutz nicht aus dem Blick verlieren“

Silke Backsen und Ove Petersen

Doch was bedeutet die Steigerung des Erneuerbaren Energien Ausbaus darüber hinaus für die Menschen in unserem Kreis und deutschlandweit? Müssen wir die Sorge hegen, dass unsere Landschaften fortan „verspargelt“ werden? Müssen wir angesichts steigender Energiepreise weitere Erhöhungen befürchten? Diese Fragen brachten zum Ende der Veranstaltung noch einmal eine kritische Perspektive auf die Debatte. Claas Arlt, Geschäftsführer beim Dirkshof in Reußenköge: „Wenn man ehrlich versucht, die Menschen zu beteiligen, bekommt man auch ein ehrliches Feedback. Und wenn wir unsere Netze zurückbekommen, und zusammen mit der Gemeinde betreiben, bezahlen wir irgendwann nur noch 2 bis 3 ct die kWh Netzentgelte. Die Menschen müssen auch künftig finanziell beteiligt werden.“ Eine stärkere Beteiligung von Kommunen und der Bürger*innen vor Ort würde nicht nur den Zubau beschleunigen, sondern die Akzeptanz vor Ort erhöhen. Konkret soll nach neuester Gesetzeslage für Anlagen, die ab 2021 bezuschlagt wurden, eine Zahlung von 0,2 ct/KWh an die jeweilige Standortkommune gezahlt werden. Würden zudem alte Windräder durch moderne leistungsstarke ersetzt, bräuchte es nach Berechnungen der Branche in Summe 35.000 Windenergieanlagen – und damit kaum mehr, als heute bereits verbaut wurde. Dass auch der Artenschutz gewährleistet ist, hänge unter anderem auch an der umsichtigen Betriebsführung und begleitenden Umweltgutachten. „Glücklicherweise sehen wir bei allen Greifvogelpopulationen eine zahlenmäßige Steigerung, was uns auch unsere umfangreichen Vogelmonitoring belegen“, so Arlt weiter.

Die abschließende Diskussion mit den rund 50 Besucher*innen zeigte, wie hoch auch das private Interesse an energiepolitischer Teilhabe ist. Die Menschen wollen, so der allgemeine Tenor, ihren Anteil an der Energiewende leisten. Viele zeigten sich interessiert an Photovoltaik-Dachanlagen, berichteten aber beispielsweise von Problemen beim Denkmalschutz. Für Dachanlagen wird alternativ zum bisherigen Standard der Eigenverbrauchsnutzung ein neuer Einspeisetarif für Anlagen mit Volleinspeisung geschaffen. Dieser ist um 36 bis 92 Prozent höher. Das sei eine prinzipiell interessante Alternative vor allem für Lagerhallen, in denen sehr wenig Strom verbraucht wird.

Der Kreisvorstand von Bündnis 90/Die Grünen bedankt sich nochmals bei dem Unternehmen Breezer Aircraft für die Gastfreundschaft, und bei allen Teilnehmer*innen sowie Besucher*innen für die angeregte Diskussion.

Tobias Goldschmidt